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  UE-Home → History → Online Empire 4 → Interview-Übersicht → NEW MODEL ARMY-Interview last update: 27.03.2024, 15:23:21  

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NEW MODEL ARMY-Einzelshot: Justin Sullivan


Eine der interessantesten Bands jenseits des Metalbereichs und einer der charismatischsten und intelligentesten Musiker unserer Tage. Genügend Gründe zu NEW MODEL ARMY-Mastermind Justin Sullivan zu sagen: "Sorry for asking you those stupid questions you already know the answer..."

»Eight« ist 20 Jahre nach der Bandgründung das achte NEW MODEL ARMY-Album. Zumeist hatten NEW MODEL ARMY sehr starke, oft metaphorische Albumtitel wie »The Love Of Hopeless Causes« oder »Strange Brotherhood«. Sind Euch diesesmal die Ideen ausgegangen?

Wir hatten viele Ideen, aber im Endergebnis haben wir uns entschieden, keinen davon zu verwenden. »Eight« ist ein sehr schlichter Titel für ein schlichtes Album. Oft waren unsere Platten Reaktionen auf die Vorgängerplatte, da wir keinesfalls das gleiche Album zweimal machen wollen. Unser letztes Album »Strange Brotherhood« nahm dreieinhalb Jahre in Anspruch bis es endlich fertig war und es wurde musikalisch unser komplexestes Werk. Manchmal dachte ich, es würde ewig dauern! Daher war es sehr befreiend, diesesmal etwas zu machen, das sehr einfach und schnell ist. Wir haben versucht, die Songs auf das Nötigste zu reduzieren und stellten dabei fest, daß die Songs stärker und stärker wurden je mehr wir wegnahmen. Ich bin mir sicher, daß es beim nächsten Album völlig anders sein wird, aber für »Eight« war dies der richtige Weg.

NEW MODEL ARMY-Bandphoto 1

Nach vielen Umbesetzungen bist Du das letzte verbleibende Gründungsmitglied. Inwiefern ist NEW MODEL ARMY heute eine Justin-Sullivan-Band?

Ich weiß nicht, denn ich mache mir um solche Sachen nie Gedanken. Es ist sicherlich richtig, daß ich die Texte schreibe und somit die zentrale Vision der Band verkörpere. Doch für mich liegt die Stärke der Band in der permanenten Veränderung, weil immer wieder neue Leute mit neuen Ideen und neuer Energie hinzukamen. Die Welt verändert sich und wir wollen auf Höhe der Zeit bleiben. Neulich hat mich jemand in einem Interview etwas über Maggie Thatcher gefragt. Darf ich ehrlich sein? Ich kann mich nicht mal mehr an Miss Thatcher erinnern! Das ist eine lange, lange Zeit her. Daher dreht sich »Eight« in meinen Augen hauptsächlich um das Jahr 2000.

NEW MODEL ARMY-Bandphoto 2

Du versuchst also schon seit zwei Dekaden mit der Welt Schritt zu halten. Wann hast Du Dich auf dieser Welt am wohlsten gefühlt?

Immer und niemals!

Und wie fühlst Du Dich momentan?

Ich habe in meinem Leben noch nie eine Zeit erlebt, in der die Reichen so reich und die Armen so arm waren. Und diese Kluft scheint immer größer zu werden. Außerdem sehe ich eine seltsame Veränderung im Wert eines Menschen - ökonomisch gesehen. Während der gesamten Geschichte der Menschheit leitete sich der Wert des Einzelnen aus der Arbeit seiner Hände ab: was er machte oder was er pflanzte und erntete, etc. Mittlerweile scheint der Wert der Menschen auf dem zu basieren, was er konsumiert. Dieser Gedanke bereitet mir eine Scheißangst! Vor allem, wenn ich darüber nachdenke, daß der Menschen als intelligentes Tier sich in seiner Seele nicht verändert hat.

Auf der neuen Platte steht der Song ›Wake Me In A Thousand Years‹. Was erwartest Du dann zu finden?

Ich weiß nicht, aber es ist ein Gedanke, der mich fasziniert. Ich bin sehr an Geschichte interessiert, weil ein Ereignis das nächste beeinflußt, so daß wir alle Gefangene der Geschichte sind. Dennoch bin ich noch neugieriger auf die Frage, wie wir vom jetzigen Zeitpunkt zum nächsten kommen. Der Song entstand völlig von selbst: Ich hatte den Anfangsgedanken und alles weitere passierte wie von selbst. Binnen kürzester Zeit hatte ich einen siebenminütigen Song, der absolut großartig, aber völlig unhörbar war. Die schwierigste Aufgabe war es, den Song auf die richtige Länge zu stutzen und einen passenden Refrain zu finden.

In ›Purity‹ steht die Zeile "Fear is the only enemy". Was ist Dein Feind, wovor hast Du Angst?

Ich glaube, daß ich das nicht wissen kann. Denn unsere wirklichen Feinde und das, vor dem wir wirklich Angst haben müssen, kennen wir nicht. Es sind die Dinge, die wir nicht erwarten und die uns unvorbereitet treffen. Andererseits denke ich, daß wir in der Tat nichts fürchten müssen, als die Furcht an sich. Wenn wir die Möglichkeit hätten, in Momenten der Angst einen Schritt zurückzutreten und uns selbst zu beobachten, würden wir erkennen, daß wir nur die Angst zu fürchten haben. Der Mensch ist ein brillantes, unheimlich anpassungsfähiges Tier. Das Schlimmste, das die Gesellschaft uns antut, ist, daß sie uns so wenig abverlangt. Es ist so erschreckend einfach zu existieren, daß wir alle lethargisch sind. Man könnte jeden in eine extreme Situation stecken und er wäre überrascht, wie gut er damit umgehen könnte. Die Menschen sind viel stärker als sie sich vorstellen können.

Es gibt eine Sache, vor der viele Menschen Angst haben: der Tod. Auch viele Deiner Texte drehen sich um dieses Thema.

Ich hatte eine Nah-Tod-Erfahrung: Ich war mehrere Minuten klinisch tot gewesen. Es passierte 1991 als ich mehrere Sekunden lang an einem defekten Verstärker einen Stromschlag bekam. Danach hat man mich in die Umkleide geschafft und versucht, mein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Währenddessen hatte ich eine klassische Nah-Tod-Erfahrung: Ich spürte keinen Schmerz, glaubte wegzuschweben, fühlte mich durch und durch warm und ich sah ein helles Licht. Es war wie die beste Drogenerfahrung, die jemals jemand hatte, multipliziert mit 10 Millionen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich tot war, aber dieser Vorgang des Sterbens war großartig. Es war wunderbar und ich kann mich noch genau daran erinnern, daß ich nicht zurückkommen wollte! Es war wie eine dieser Platten, die mit leisen Rückkopplungen und weit entferntem Krach anfangen und alles kommt immer näher. Und ich weiß noch, daß mein erster Gedanke war: "Warum kann ich niemals Frieden finden?" Ich habe mir meine persönliche Erklärung dafür zurechtgelegt: Ich vermute, daß in dem Moment, in dem dein Herz zu schlagen aufhört, dein Gehirn in eine Art Nullmodus verfällt und chemische Reaktionen im Gehirn dir dieses Gefühl von Vollkommenheit geben. Ich weiß zwar nicht, was passiert, wenn Du tot bist, aber ich habe keine Angst davor. Wenn Du mir sagen würdest, daß ich morgen sterben muß, wäre ich nicht glücklich, weil ich noch so viele Dinge tun möchte, aber ich hätte keine Angst davor. Ich wuchs in einer religiösen Familie auf und habe einen Glauben. Ich bin kein Christ, aber ich habe einen religiösen Background. Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber beide Möglichkeiten erscheinen mir gleich wahrscheinlich: daß nach dem Tod etwas kommen oder daß nichts kommen wird.

Woher beziehst Du ansonsten Deine Inspirationen?

In dieser Hinsicht bin ich fast schizophren: Die Musik und die Texte scheinen unterschiedlichen Regionen meiner Gehirns zu entspringen. Wenn ich an einem arbeite, kann ich unmöglich an dem anderen arbeiten. Für meine Texte lasse ich mich allem beeinflussen, das mir passiert. Oder ich setze Geschichten um, die andere Leute mir erzählen. Ich habe immer einen Notizblock dabei, damit ich Ideen sofort aufschreiben kann, denn ich habe ein grauenhaft schlechtes Gedächtnis. »Eight« hat sich fast von selbst getextet: Ich mußte nur einige Tage lang gute Ideen aus meinem Notizblock herauspicken. Manchmal fühle ich mich wie ein Vampir, denn beispielsweise die Sequenz aus ›Leeds Road 3am‹, in der der Unfall beschrieben wird, habe ich selbst erlebt. Ich empfand es fast unmoralisch, diese Tragödie, die realen Menschen passiert ist, in einem Text umzusetzen, aber das ist nun mal, was Schreiber tun. Die meisten meiner Texte sind sehr konkret und treffen eine Aussage über Ort und Zeitpunkt des Geschehens, über das Wetter, etc., so daß beim Hörer Bilder oder kleine Videoclips entstehen können.

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Gutes Stichwort und ein großer Themensprung: NEW MODEL ARMY haben in der Vergangenheit immer wieder Videoclips gedreht. Würde das heute noch Sinn machen, da MTV & Co. NEW MODEL ARMY nie und nimmer rotieren lassen würden?

Daher haben wir für die neue Scheibe kein Video produziert. Unser letztes Video stammt immer noch vom Opener des letzten Albums: ›Wonderful Way To Go‹. Und schon mit diesem Video hatten wir ziemlich wenig am Hut: Ich saß auf einem Sofa, sang das Lied und wurde dabei gefilmt. Daraus hat ein Franzose das Video gebastelt. Ich persönlich habe kein Interesse daran, Videos zu machen. Das war schon immer so: In der Vergangenheit machten wir die Videos, weil die Plattenfirma darauf bestand. Sie dachten, sie könnten mit den Videos Geld machen, aber es war immer eine Geldverschwendung gewesen.

Seit wann kannst Du von der Musik leben?

Seit 18 Jahren - Gott sei Dank! Ich glaube, das Beste am Leben eines Musikers ist, daß man nicht jeden Morgen aufstehen mußte. Ich hatte eine Menge Jobs und kann mich noch bestens an einige erinnern: In einem Supermarkt oder einer Fabrik - diese Jobs waren richtig scheiße; aber ich hatte auch mal einen Job in London in der U-Bahn, der echt okay war.

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Die meisten Menschen assoziieren mit NEW MODEL ARMY automatisch den Song ›51st State‹, der Euer größter Hit war. Haßt Du Dich dafür, diesen Song geschrieben zu haben?

Eigentlich habe ich den Song nicht geschrieben, sondern ein Freund. Er ist ein großartiger Songschreiber und furchtbarer Alkoholiker. Ich habe nur den letzten Vers geschrieben. Im Studio wußten wir nicht, ob wir den Song akustisch oder "elektrisch" aufnehmen sollten. Also schlug ich vor, beide Versionen aufzunehmen und entschied, die Mischung aus beiden Versionen auf die Platte zu nehmen.
Interessanterweise mag ›51st State‹ in vielen Ländern und auch in Deutschland unser populärster Song sein, nicht jedoch in England. In England war ›Vengeance‹ immer unser beliebtester Song. Das war der Grund, weshalb wir solche Songs lange Zeit nicht gespielt haben. Immer, wenn ein Song in irgendeinem Land größer wurde als die Band, haben wir aufgehört, ihn zu spielen. Wir haben ›Vengeance‹ 1984 geschrieben und in England 1986 aus dem Programm geworfen und vier Jahre nicht mehr gespielt. Das gleiche gilt für ›51st State‹, das 1991 entstand: Wir haben es in Deutschland mehr als vier Jahre lang nicht mehr gespielt, aber schon auf der letzten Tour hatten wir es wieder im Programm. Ich hasse die Vorstellung, daß es einen Song gibt, den wir spielen müssen.

ANACRUSIS haben auf ihrer CD »Manic Impressions« den NEW MODEL ARMY-Song ›I Love The World‹ gecovert.

Es gibt eine interessante Anekdote dazu: Sie haben nämlich den Songtext leicht verändert und machten aus dem Ausdruck "christian lies" "religious lies". Ich schrieb ihnen daraufhin einen Brief, in dem ich sagte, daß sie doch bitte den Text nicht verändern sollten, aber sie taten es dennoch. Vor etwa acht Jahren erhielt ich eine E-Mail von einem Bandmitglied, der mir gestand, daß die Eltern des ANACRUSIS-Drummers die Platte finanziert hätten. Da sie Christen waren bestanden sie drauf, daß der Ausdruck "christian lies" nicht auftaucht.

Neben NEW MODEL ARMY trittst Du häufig solo oder mit RED SKY COVEN auf. Warum brauchst Du so viele Betätigungsfelder?

Ich brauche die Abwechslung: Wenn ich beispielsweise wie jetzt lange Zeit mit NEW MODEL ARMY unterwegs bin freue ich mich anschließend auf die Soloauftritte. Wenn ich lange solo oder mit RED SKY COVEN aufgetreten bin, ist es toll, wieder mit NEW MODEL ARMY aktiv zu werden. Zudem sind alle Projekte grundverschieden: Meine Solonummern sind zumeist sehr melancholische, akustische Stücke, und ein RED SKY COVEN-Event besteht sowohl aus Liedern, die ich mit Gitarrenbegleitung vortrage, Gedichtvorträgen von meiner Freundin Joolz und Geigenstücken von Rev Hammer. RED SKY COVEN ist immer etwas ganz Besonderes, da wir alle schon seit 20 Jahren miteinander befreundet sind - es ist fast so als würde man mit seinen besten Freunden in Urlaub fahren. Mein Soloalbum ist eigentlich schon längst fertigkomponiert, aber dann rückte der Termin für »Eight« näher und ich schaffte die Aufnahmen nicht mehr rechtzeitig. Zwischen dem Studioaufenthalt für »Eight« und der jetzigen Tour hatte ich den Kopf für die Sologeschichte nicht frei. Also wird meine Soloplatte das erste sein, das ich nach der Tour in Angriff nehmen werde.

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Warum eigentlich NEW MODEL ARMY? Unwissende Beobachter könnten die Band aufgrund des Namens in eine völlig falsche Ecke einordnen.

In unseren Anfangstagen spielten wir zusammen und hatten uns nie Gedanken über einen Namen gemacht. Irgendwann stand ein Konzert an und plötzlich brauchten wir unbedingt binnen kürzester Zeit einen Namen. Ich bin sehr von Geschichte fasziniert und "New Model Army" war der Name von Oliver Cromwells Truppen im English Civil War im 11. Jahrhundert. Wir spielten also diesen Gig in einem Pub in Bradford als NEW MODEL ARMY und hatten im Leben nicht daran gedacht, daß aus uns mal eine Band werden würde, die auf der ganzen Welt spielt, so daß sich die Leute ernsthaft Gedanken über die Bedeutung des Namens machen würden.

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Wie bist Du zu dem Künstlernamen "Slade The Leveller" gekommen, den Du in Anfangstagen verwendet hast?

Die wahren Wurzeln des Namens sind ein Geheimnis. Aber es war eine Tradition im Punk, einen Künstlernamen zu haben, für den es einen triftigen Grund gab: Jeder von uns bezog Arbeitslosengeld und hätte jemand herausgefunden, daß wir mit unseren jeweiligen Bands Geld machten, hätte man das Arbeitslosengeld sofort gestrichen.

http://www.newmodelarmy.org/

Vorbereitung:
Stefan Glas

Interview:
Steffen Mistler + Stefan Glas

Bearbeitung:
Stefan Glas

Photos: Stefan Glas

NEW MODEL ARMY im Überblick:
NEW MODEL ARMY – Fuck Texas, Sing For Me (Rundling-Review von 2009 aus Online Empire 39)
NEW MODEL ARMY – High (Rundling-Review von 2007 aus Online Empire 33)
NEW MODEL ARMY – The Love Of Hopeless Causes (Rundling-Review von 1994 aus Underground Empire 7)
NEW MODEL ARMY – Online Empire 4-Interview (aus dem Jahr 2000)
Playlist: NEW MODEL ARMY-Album »Impurity« in "Playboylist Underground Empire 5" auf Platz 5 von Axel Westrich
Playlist: NEW MODEL ARMY-Album »Impurity« in "Playlist Heavy, oder was!? 75" auf Platz 1 von Stefan Glas
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