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MASSIVE SCAR ERA-Logo

Metal aus Ägypten ist an sich schon eine Rarität. Wenn sich dann eine Band nicht nur großteils aus Mädels zusammensetzt, sondern auch noch einen derart ungewöhnlichen und fesselnden Mix aus Metal, Folklore, Punk, Klassik und Hardcore fabriziert wie MASSIVE SCAR ERA, dann muß man ihr einfach genauer auf den Zahn fühlen. Sherine Amr, die als Sängerin, Gitarristin und zugleich Managerin der Truppe fungiert, stellte sich zur Verfügung.

MASSIVE SCAR ERA-Headline

Warum habt Ihr die Band MASSIVE SCAR ERA genannt?

MASSIVE SCAR ERA stellt die perfekte Definition jener Zeit dar, in der wir momentan leben - das beginnt bei den Kriegen ohne Zahl und geht bis hin zu den Menschen an sich, die mit unzähligen Problemen zu kämpfen haben.

MASSIVE SCAR ERA-Shot: Nancy Mounir und Sherine Amr

Warum habt Ihr den Bandnamen im Logo zu "Mascara" geschrumpft? Ein Hinweis auf die Tatsache, daß Ihr als All-Girl-Band angefangen habt?

Es gibt zwei Gründe: Zum einen hatten wir das Problem, daß viele Menschen in Ägypten den Bandnamen nicht aussprechen konnten, und - ja - zum anderen auch, um darauf hinzuweisen, daß die Musik von Mädels stammt. Also zogen wir "Mascara" aus "Ma" für "massive", "sca" für "scar" und "ra" für "era" zusammen.

Steckten auch ähnliche Beweggründe, also der Hinweis auf das Geschlecht der Akteure, hinter Eurem ursprünglichen Namen NAIL POLISH, so daß man die Abkürzung "Mascara" quasi als die Verbindung zwischen der frühen und der aktuellen Bandphase ansehen könnte?

Nein, absolut nicht. Der Name NAIL POLISH wurde von unserer damaligen Schlagzeugerin ausgewählt. Beide Namen stehen nicht in Zusammenhang - außer daß sie beide darauf hindeuten, daß Mädels in der Band aktiv sind.

Was hatte Euch damals zu dem Namenswechsel bewegt?

Zu Anfang war vieles anders: Unsere Schlagzeugerin war zugleich unsere Sängerin, und unser Stil war eher Grunge-orientiert. Nachdem die Schlagzeugerin die Band verlassen hatte, klang die Band völlig anders. Zeitgleich wurden wir viel härter und bauten auch brutale Elemente in unseren Sound ein. Also lag es nahe, daß wir auch den Bandnamen wechseln würden.

Kannst Du noch etwas genauer auf Eure Besetzungswechsel und die damit einhergehenden Veränderungen der Musik eingehen?

Die Band ist seit 2005 unter dem Namen MASSIVE SCAR ERA aktiv, und wir hatten seither acht Mitglieder austauschen müssen, da ich und unsere Violinistin Nancy Mounir uns der Band sehr hingebungsvoll und ernsthaft widmen, so daß wir auch sehr wählerisch sind. Einige unserer Mitmusiker nahmen das Bandleben nicht richtig ernst, manche wollten nur dabei sein, weil es "cool" ist, und andere hatten private Probleme zu Hause, weshalb sie nicht live auftreten konnten. Glaub' mir, eine Mädelband zu managen, ist echt schwer!
Aber mal abgesehen von den personellen Veränderungen, die natürlich auch die Musik beeinflußt haben, konnte man uns immer wegen der Violine und des extremen Frauengesangs identifizieren. Wir haben uns also in der Tat über die Jahre verändert, so daß wir heute anders als noch vor fünf Jahren klingen, aber wir sind unserem grundlegenden Stil treugeblieben.

Wie kam es, daß Ihr 2009 in Drummer Youssef Altay erstmals einen Mann in die Band aufgenommen habt?

Unsere damalige Schlagzeugerin Hadeel Hussein ist sehr talentiert, aber sie ist auch noch sehr jung. Als unser erster internationaler Auftritt im Rahmen des "Sweden Rock Festivals" im Jahr 2009 anstand, hatte sie Prüfungen, da sie immer noch zur Schule ging. Daher mußten wir einen Ersatz finden, da wir die Chance, bei einem derart großen Festival zu spielen, natürlich nicht aufgeben wollten.
Ich hatte Youssef Altay oft mit seiner eigenen Band gesehen, und er beeindruckte mich immer mit seinem Feeling und seiner Kreativität. Daher rief ich ihn an, wir jammten, und alles lief hervorragend. Später bestanden Hadeels Eltern unerbittlich darauf, daß sie sich auf ihr Studium konzentrieren sollte, so daß sie nicht sehr oft mit uns auftreten konnte. Das führte letztendlich dazu, daß Youssef ein festes Bandmitglied wurde.

Wie kommt Euer ganz spezieller musikalischer Mix zustande? Aus welchen Einflüssen leitet Ihr ihn ab?

Ich stehe auf Alternative, Punk Rock, Hardcore und Metal, und natürlich darf man meinen orientalischen Background nicht vergessen, den auch unsere Violinistin Nancy hat. Sie mag zudem klassische Musik und Bossa Nova. Als wir uns vor fünf Jahren kennenlernten und begannen, gemeinsam Musik zu machen, haben wir nach und nach aufeinander abgefärbt: Sie hat mich mit Klassik in Kontakt gebracht, und ich bin dieser Musik verfallen, ebenso wie ich sie mit Metal infiziert habe.
Daher hat sich meine Art zu komponieren verändert, und zudem überließ ich es Nancy, die Arrangements auszuarbeiten. Was man bei MASSIVE SCAR ERA hört, stammt also stets von uns beiden.

Wie bist Du zur Musik gekommen? In Eurem Info habe ich gesehen, daß Du erst mit 19 Jahren begonnen hast, Gitarre zu spielen, was ziemlich spät ist. Außerdem: Welche Musik hast Du bei Deiner ersten Band PSYCHICS gemacht?

Das ist richtig: Ich habe mich erst mit 19 der Gitarre zugewandt. Zuvor hatte ich bei PSYCHICS nur gesungen. Den Stil von PSYCHICS könnte man als Gothic Rock beschreiben.

Hast Du eigentlich eine Gesangsausbildung? Es ist sehr ungewöhnlich, daß sowohl der Cleangesang als auch das Growling von ein und derselben Person stammen! Oftmals ist es auch so, daß jemand, der "richtig" singt, nicht zugleich growlen kann, ohne sich die Stimme zu ruinieren. Hast Du deswegen keine Probleme?

Ich nahm einige Gesangsstunden nachdem ich die Band gegründet hatte, da ich im Opernstil singen wollte. Der Extremgesang kam einfach aus mir raus, ohne daß ich es bemerkt hätte. Ich glaube, ich habe das Glück, daß Gott mich mit dieser besonderen Fähigkeit beschenkt hat. Ich wußte nicht, daß es schwierig ist, gleichzeitig clean und brutal zu singen. Für mich fühlte es sich so normal an, daß ich dachte, daß es für jeden möglich sei - bis die ersten Leute mich darauf ansprachen, wie ich das um alles in der Welt anstellen würde. Glücklicherweise habe ich bislang keine Stimmprobleme, und ich hoffe, daß es so bleiben wird.

Ich denke, es ist nicht zu überhören, daß die traditionelle ägyptische Musik einen Einfluß auf die Songs von MASSIVE SCAR ERA hat. Wie wichtig sind diese Elemente für Euch?

Ja, wir haben orientalische Einflüsse, aber sie stellen kein Muß dar. Manchmal stellen sie sich ganz einfach ein, und manchmal ergibt es sich nicht, so daß nicht alle Songs solche Einflüsse haben. ›Stubborn Head‹, ›Fix You Up‹, ›My Humanity‹ oder ›Gravity‹ sind einige der Songs, die frei von jeglichen traditionellen Elementen sind.

Wovon handeln Eure Texte? Werdet Ihr durch die Kultur und die Geschichte Eures Landes beeinflußt?

Ich schreibe über alles, was in irgendeiner Form eine Eindruck auf mich macht. Es können politische Themen sein, eine persönliche Erfahrung oder irgendetwas, das mich emotional beeinflußt hat.

Wie war es, als Ihr 2009 beim "Sweden Rock Festival" und 2010 beim "Cornerstone Festival" in Chicago gespielt habt. Hattet Ihr das Gefühl, einen Kulturschock zu erleiden?

Es war die beste Erfahrung, die ich je gemacht habe: Es war großartig, dort hinzufahren und Bands zu treffen, die man selbst hört und bewundert.
Wir haben dabei sicherlich keinen Kulturschock erlitten, denn wir waren schon oft in Kontakt mit anderen Kulturen. Als wir mit anderen Musikern sprachen, merkte man vielmehr, daß sie großes Interesse daran hatten, wie es für eine Band in Ägypten zugeht. Es bedeutete also kein Aufeinanderprallen der Kulturen, sondern es hat Spaß gemacht, und es war schön, daß wir unsere Kultur repräsentieren konnten. Es war mehr wie ein Kulturaustausch zwischen Menschen mit den gleichen Interessen und dem fast gleichen Alter.

Ihr habt Euch also nicht wie auf »Unfamiliar Territory« gefühlt und daher Eure Demo-CD so benannt?

Der Name unserer ersten EP stammt von dem gleichnamigen Song, den ich damals schrieb. Er basiert auf der Phase in meinem Leben, durch die ich damals ging, und ist sehr persönlich gehalten.

Bis dato kenne ich lediglich vier Songs von MASSIVE SCAR ERA. Auch auf MySpace findet man keine weiteren Songs. Habt Ihr keine weiteren Eigenkompositionen? Müßt Ihr demzufolge bei Liveshows auf Coverversionen zurückgreifen?

Wir haben eine Menge Material und sind als Songschreiber sehr aktiv, aber uns fehlt einfach das Geld, um sie aufzunehmen. Wir haben eine schöne Stange Geld für unsere EP ausgegeben und trotzdem nicht die Qualität erzielt, die wir gerne gehabt hätten.
Bei unseren Konzerten spielen wir ausschließlich unsere Songs, die problemlos einen ganzen Set füllen. Genauer gesagt, kriegen wir nicht alle unsere Songs in einem Set unter. Du kannst mir glauben, daß wir uns nichts sehnlicher wünschen, als ein komplettes Album aufzunehmen!

Wie Du gerade schon selbst eingeräumt hast, ist die Produktion Eurer Demo-CD nicht perfekt. Habt Ihr sie im Proberaum oder im Studio aufgenommen? Wie ist es in Ägypten um Studios bestellt, in denen auch Underground-Bands aufnehmen können?

Die Aufnahmen fanden in einem Studio statt, das auch sicherlich gut ausgestattet ist, aber die Aufnahmetechniker hören diese Art von Musik nicht. Ganz egal wie wir es anstellten, wir konnten ihnen einfach nicht begreiflich machen, wie wir den Sound haben wollten. Wir haben ihnen sogar einige Beispiele vorgespielt, aber sie haben es einfach nicht begriffen.
Ich glaube nicht, daß ägyptische Metalbands in ihrer Heimat professionell aufnehmen können - besonders was die Drums betrifft. Selbst wenn die Aufnahmen glücken würden, könnten sie spätestens nach dem Mix nicht mehr mit europäischen oder amerikanischen Produktionen mithalten.

MASSIVE SCAR ERA-Bandphoto 1

Wie ist es eigentlich um die "Infrastruktur" für Bands in Eurer Heimat bestellt? Findet man problemlos einen Proberaum, oder ist das genauso schwer wie überall auf der Welt? Gibt es Liveclubs, in denen Bands auftreten können? Wie oft könnt Ihr überhaupt live spielen?

Proberäume sind eigentlich relativ einfach zu finden, aber unter klangtechnischen Aspekten sind sie allesamt katastrophal! Da wir Metal spielen, gibt es nur zwei Locations, wo wir auftreten können: "El Sawy Culturewheel" in Kairo und "Bibliotheca Alexandrina" in Alexandria. Das sind die einzigen Läden, die Metalbands eine Chance geben, so daß wir vielleicht alle drei Monate einen Gig spielen können.

Ihr stammt aus Alexandria, einer der größten Städte in Ägypten. Wie steht es um die Metalszene in Alexandria oder der ägyptischen Hauptstadt Kairo? Gibt es auch Metalfans in der ländlicheren Gebieten? Wie oft könnt Ihr Konzerte von ausländischen Bands erleben? Gibt es kleine ägyptische Labels, die die einheimischen Bands unterstützen? Gibt es Metal-Magazine oder spezialisierte Plattenläden? Kurz: Erzähl' doch einfach mal etwas über die Befindlichkeiten der harten Musik in Eurer Heimat!

Metal ist in Ägypten auf Kairo und Alexandria konzentriert. Es gibt keine Metalszene in anderen Städten - zumindest nicht, daß mir etwas darüber zu Ohren gekommen wäre. Das liegt allein schon daran, daß es in anderen Städten keine Studios oder Liveclubs gibt. Die Fans in Alexandria stehen hauptsächlich auf Black und Death Metal, während Heavy-Stoff eher in Kairo angesagt ist. Die Szene in Alexandria ist extrem klein, so daß man bei Konzerten immer wieder die gleichen Leute trifft, die sich mittlerweile alle gegenseitig bestens kennen. Die Szene in Kairo ist allerdings etwas größer, so daß dort auch das Publikum etwas zahlreicher ist.
Im letzten Juni halfen wir zwei schwedischen Bands, der All-Girl-Band FOUREVER und der Female Fronted-Combo SCARLET DROP, je ein Konzert in Alexandria und in Kairo zu spielen. Wir fungierten als Opener bei beiden Gigs, und die Shows waren schlicht großartig!
Es gibt in Ägypten keine Plattenfirmen für Rock oder Metal, so daß wir in dieser Hinsicht nicht auf Unterstützung zu hoffen brauchen. Ich glaube auch nicht, daß sich das jemals ändern wird, denn es ist einfach kein Teil unserer Kultur, und zudem würde es kein Geld einbringen, da die Zielgruppe sehr klein ist.
Es gibt auch keine Magazine, lediglich ein Onlinemagazin namens ROCK ERA (http://www.rockeramag.com/), das allerdings nicht auf Metal spezialisiert ist, sondern seinen Schwerpunkt eher zwischen Rock und Metal legt.
Ich will aber nicht vergessen, einige ägyptische Bands zu empfehlen: IDLE MIND, FAKING IT, YOUR PRINCE HARMING, KARMA.

In Ägypten sind mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Muslime. Wie steht es um die Musiker von MASSIVE SCAR ERA?

Ich bin eine gläubige Muslime, während Nancy eine gläubige Christin ist.

...oder seid Ihr vielleicht eine satanische Band, denn in diesem Moment, da ich diese Fragen zusammenstelle, habt Ihr exakt 666 Freunde auf MySpace...

[lacht] Nein, wir sind das absolute Gegenteil, denn wir glauben an Gott, und wir beten zu ihm.

Wenn Ihr beide gläubige Menschen seid, aber unterschiedlichen Religionen angehört, gibt es dann keine Differenzen zwischen Euch, weil beide Religionen jeweils ihren eigenen Gott haben? Der Islam hat Allah und seinen Propheten Mohammed, während die Christen an Gott, den Vater, glauben, der seinen Sohn Jesus Christus auf die Erde geschickt hat. Macht Ihr Euch manchmal Gedanken um solche Dinge?

Nancy und ich sprechen sehr oft über dieses Thema. Dabei haben wir enorm viele Gemeinsamkeiten zwischen unseren Religionen gefunden, was darauf zurückzuführen ist, daß Gott beide geschaffen hat. Nancy gehört einer protestantischen Glaubensgemeinschaft an, und sie glaubt wie ich an den einen Gott, so daß es keine Konflikte zwischen uns gibt.

Wie ist die Situation für Mädel in einem muslimischen Land, das derart moderne Musik spielt? Sicherlich gibt es große Unterschiede zwischen islamischen Fundamentalisten und "normalen" Moslems, und sicherlich schweben nicht in jedem muslimischen Land Musiker von Metalbands in der Gefahr, einzig wegen ihrer musikalischen Vorliebe ins Gefängnis gesteckt zu werden, wie das beispielsweise im Iran der Fall ist. Wie ist die Situation in Deiner Heimat? Außerdem: Hat sich da etwas in den letzten Jahren, also gegenüber jener Zeit, als Du noch bei PSYCHICS warst, geändert?

Ägypten ist sicherlich kein sehr fortschrittlich denkendes Land, aber die Regierung wird niemand in den Knast stecken, weil er Musik macht. Garantiert nicht! Mit offiziellen Stellen haben wir keine Probleme gehabt, aber meine Eltern waren immer sehr streng und dachten, daß es eine verrückte Sache sei, Musik zu machen. Schließlich ist Ägypten nicht der sicherste Platz auf Erden, so daß man immer wieder Gerüchte hört, was passieren kann, wenn man mit den falschen Leuten in Kontakt kommt.
Ich verließ PSYCHICS, weil meine Mutter mir nicht mehr erlaubte, Musik mit anderen Jungs zu machen und mit ihnen ins Studio zu gehen. Sie traute anderen Leuten nicht, und Du weißt, daß Mütter immer recht haben. Damals war ich noch sehr jung und unerfahren, so daß sie mich beschützen wollte, wofür ich ihr dankbar bin. Also gründete ich MASSIVE SCAR ERA als All-Girl-Band, um auf der sicheren Seite zu sein: So konnte ich Musik machen, ohne meine Mutter aufzuregen oder Schwierigkeiten mit meiner Familie zu bekommen.
Mittlerweile bin ich 25 Jahre, so daß nicht nur ich älter bin, sondern meine Mutter sich zudem an die Musikszene gewöhnt hat, so daß sie sogar zu unseren Konzerten kommt, um mich spielen zu sehen. Wenn ich eines Tages verheiratet bin und eine Tochter hätte, dann würde ich genau das gleiche tun, denn ich denke, daß die Musikszene nicht gut für eine 16-Jährige ist.
Als ich damals bei PSYCHICS war, gab es weder die "Bibliotheca Alexandrina" noch "El Sawy Culturewheel". Daher spielten wir an ziemlich abgefuckten Orten, wo es nur mistigen Sound, aber garantiert keine Security gab. Ich bin sehr froh, daß wir heute endlich unsere Musik in einer sauberen und sicheren Umgebung spielen können.

MASSIVE SCAR ERA-Shot: Sherine Amr und Nancy Mounir

Wie war es möglich, daß Ihr 2005 Euer erstes Konzert in der "Bibliotheca Alexandrina" spielen konntet? Bei der "Bibliotheca Alexandrina" handelt es sich um ein 2002 eröffnetes Kulturzentrum ganz in der Nähe der Stelle, an der die Bibliothek von Alexandria, die berühmteste Bibliothek der Antike, gestanden hatte. In diesem neuen Kulturzentrum befinden sich neben der eigentlichen Bibliothek auch Museen, Galerien, Forschungsinstitute, ein Planetarium und ein Veranstaltungszentrum. Hattet Ihr da spezielle Connections, um an den Auftritt ranzukommen?

Nein, nein... [lacht] Es ist wirklich nicht so schwer, in der "Bibliotheca Alexandrina" zu spielen. Wir waren damals gerade im Studio und trafen den Keyboarder einer Band namens MASSAR EGBARI. Er hatte den Auftrag bekommen, junge Bands ausfindig zu machen, die in der "Bibliotheca Alexandrina" auftreten wollen. Er empfahl uns weiter, und das war's auch schon.
Wir waren dann sogar die erste Rock- oder Metalband, die dort gespielt hat, was für uns natürlich großartig war. Seither haben sie angefangen, Metal- und Rockbands zu unterstützen, sofern diese keine Schwierigkeiten machen.

Das ist zweifelsohne ein geschichtsträchtiger Ort, auch wenn es ein neuer Bau ist. Stellen die Konzerte dort etwas besonderes dar oder ist man als Ägypter gegen solche Gefühle eher resistent, da man ohnehin tagtäglich von soviel Historie umgeben ist?

Wir sehen die "Bibliotheca Alexandrina" nicht wirklich als historischen, sondern eher als einen Ort, der für Touristen von Interesse ist. Auf alle Fälle ist es etwas völlig anderes als beispielsweise die Pyramiden. Wenn wir dort auftreten, ist es ein gutes Gefühl, was aber damit zu tun hat, daß der Club sehr schön ist und einen relativ guten Sound hat.

Im Sommer 2006 habt Ihr wieder in der "Bibliotheca Alexandrina" bei einem internationalen Musikwettbewerb gespielt, wo Ihr drei Preise absahnen konntet; nämlich für die Band an sich, für Dich als Sängerin und für Eure Geigerin Nancy. Welchen Stellenwert hat ein solcher Preis in Eurer Heimat? Heißt das, daß Ihr in Ägypten schon als etablierte Band zu gelten habt?

Nun, ich weiß nicht, was die Leute über uns denken. Ich glaube, daß wir in den letzten Jahren eine Menge erreicht haben, wenn man an die Auszeichnungen, die Auftritte bei internationalen Festivals oder die Möglichkeit, für größere Bands eröffnen zu können, denkt. Wir werden mit Respekt behandelt, aber ich habe keinen Schimmer, wie man uns wirklich einstuft. [grinst]

Wie siehst Du denn die Chancen für MASSIVE SCAR ERA überregional? Die meisten Bands aus dem Nahen Osten stehen bei europäischen Labels unter Vertrag. Ist das auch Euer Ziel?

Wir haben schon ein paar Angebote erhalten, die aber nicht sonderlich gut waren. Als wir in Amerika waren, zeigten sich einige amerikanische Label an uns interessiert. Momentan denken wir sorgfältig über unseren nächsten Schritt nach, da er sehr wichtig für die Band ist.

Welche Pläne oder Träume wollt Ihr mit Eurer Band verwirklichen?

Wir wollen bei so vielen Festivals wie möglich auftreten, wobei wir ein Hauptaugenmerk auf internationale Festivals legen, da wir möglichst überall in der Welt auf uns aufmerksam machen wollen. Natürlich wollen wir auch eine komplette CD aufnehmen, die dann hoffentlich weltweit vertrieben wird. [lächelt]

Wie wichtig sind für eine Band wie Euch solche Internet-Plattformen wie MySpace oder Facebook?

Ich denke, daß wir ohne MySpace überhaupt nichts hätten erreichen können. Es ist quasi unser Online-Promo-Kit.

Könntest Du Dir vorstellen, für die Band aus Deiner Heimat wegzugehen?

Ich glaube nicht, daß das ein Problem für uns wäre. Wir lieben, was wir tun, und die Musik stellt den Schwerpunkt in unserem Leben dar. Wenn es also gute Gründe gäbe umziehen, dann würden wir das tun.

Wie wichtig sind für Euch althergebrachte oder politische Konflikte? Hast Du zum Beispiel Vorbehalte gegenüber israelischen Metalbands, weil es politische Konflikte zwischen Euren Ländern gibt?

Ich kann natürlich nicht für Nancy sprechen, sondern nur für mich. Ja, ich bin gegen Israel, und es macht mir nichts aus, wenn ich dafür getötet werde, weil ich das laut ausspreche. Ich bin nicht gegen ihre Religion, denn mein Glaube gebietet mir, alle Religionen zu respektieren, die von Gott und seinen Propheten gesendet wurde, aber ich bin gegen die Zionisten.

Wie ich schon zuvor gesagt hatte, gibt es gewiß Unterschiede zwischen dem fundamentalistischen und dem gemäßigten Islam, aber genauso ist gewiß nicht jeder Israeli ein Zionist. Die Geschichte zeigt uns, daß solche Konflikte mit religiösem Hintergrund von interessierter Seite zu politischen Zwecken mißbraucht werden. So hatten die Christen im Mittelalter die Kreuzzüge begonnen, um das "Heilige Land" von den "Ungläubigen" zu "befreien". Letztendlich steckten hinter den Kreuzzügen aber auch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen.
Zudem denke ich, daß sich viele Metalbands in Israel als völlig unpolitisch und keineswegs religiös motiviert ansehen. Hast Du auch gegen solche Bands Vorbehalte nur weil sie aus Israel stammen? Abschließend will ich zu diesem Thema das Beispiel ORPHANED LAND anführen: Die Band stammt aus Israel und hat ihre aktuelle Platte komplett dem Thema der Toleranz zwischen den großen Weltreligionen gewidmet. Siehst Du eine Chance für eine solche Entwicklung, die zu mehr Verständnis zwischen den Religionen und Frieden zwischen den verschiedenen Ländern führen würde? Denkst Du, daß Rockmusik oder Metal bei einem solchen Prozeß mithelfen kann?

Ich habe Kontakte mit vielen Bands aus Palästina und habe an vielen Kulturaustausch-Workshops teilgenommen. Daher sollte ich zur Klarstellung sagen, daß für mich Israel das besetzte Palästina bedeutet. Es ist nicht das Land der Israelis, und sie wissen alle, wie man Waffen benutzt. Sie sollen aus Palästina verschwinden und unschuldige Menschen in Frieden lassen! Würdest Du es zulassen, daß jemand in Dein Heim eindringt, Dich rauswirft und Dir dann ins Gesicht sagt, daß es ab sofort ihm gehört?
Wenn ich Israelis sehe, behellige ich sie nicht, aber ich werde mich auch nicht mit ihnen anfreunden wollen. Wenn ich eine Band aus Israel treffe, die sich mit mir unterhalten möchte, was schon passiert ist, dann antworte ich höflich, denn meine Religion gebietet mir, höflich zu sein, aber ich würde mich nicht danach streben, mich mit ihnen anzufreunden und weiteren Umgang zu haben. Aber auch hier spreche ich nur für mich und weiß nicht, wie Nancy darüber denkt.
Vor etwa vier Jahren hatte ich ein großes Festival mit Musikern aus den Arabischen Ländern organisiert. Eine der auftretenden Bands waren KORDZ aus dem Libanon, bei ihnen spielt ein Amerikaner die Oud (eine Kurzhalslaute - Red.). Er bot mir an, daß er den Kontakt zu ORPHANED LAND herstellen könnte, die Interesse daran hätten, bei dem Festival aufzutreten, was ich höflich abgelehnt habe. Das hat nichts damit zu tun, daß sie "nur" aus Israel kommen, sondern sie leben verdammt nochmal in der Heimat von jemand anderem! Würdest Du das tolerieren? Es ist eine Tatsache, daß die Israelis sich palästinensisches Gebiet angeeignet haben und dort leben - auch wenn das schon vor Hunderten von Jahren passiert ist. Außerdem hatten wir schon Krieg mit Israel, weil sie versucht haben, uns die Sinai-Halbinsel wegzunehmen. Es wurden viele Menschen getötet als wir unser Land zurückeroberten. Ich für meinen Teil werde daher nie meinen Frieden mit Israel machen! Aber ich will noch ein letztes Mal betonen, daß dies nur meine persönliche Meinung ist. Ich habe drei Jahre Jura studiert, wo ich mich besonders auf internationale Gesetze spezialisiert hatte, so daß ich weiß, daß Israel viele Friedensabkommen gebrochen haben. Vielleicht wirst Du Menschen finden, die anders denken.

Der Krieg, den Sherine anspricht, war der Sechstagekrieg von 1967: Damals besetzte Israel die Sinaihalbinsel sowie die syrischen Golanhöhen und die jordanischen Westbank als Reaktion auf die Sperrung der Straße von Tiran durch die Ägypter, die Israels einzigen Zugang zum Indischen Ozean darstellt. Wie beim gesamten Nahostkonflikt handelt es sich auch hierbei um ein komplexes Problem, das selbstverständlich jede Seite anders sieht. Doch wie man an Sherines Worten sieht, liegt im Nahen Osten immer noch eine Menge Zündstoff vergraben.
Doch genug der politischen Erörterungen! Sherine, gibt es abschließend noch etwas, das Du loswerden willst?

Ich möchte sagen, daß dies das interessanteste Interview ist, das ich in meinem ganzen Leben gegeben habe, und das meine ich ernst! (Danke für die Blumen! - Stefan) Ich möchte Dir danken, daß Du unserer Band hilfst, daß sich mehr Leute aufgrund dieser tollen Fragen mit unserer Band in Kontakt kommen werden. Können wir gerne wiederholen!

Als Schlußbemerkung sei noch gesagt, daß Sherine und Amir sich just wieder von ihren Mitmusikern getrennt haben, und derzeit überlegen, keine festen Mitmusiker mehr zu suchen, sondern sich lediglich mit Sessionmusikern zu behelfen. Daher sind auf den Bandphotos nur die beiden Mädels zu sehen. Auf alle Fälle darf man gespannt der Zukunft dieser Band entgegenblicken.

http://myspace.com/massivescarera

howlikeawinter@gmail.com

Vorbereitung, Interview & Bearbeitung:
Stefan Glas

Photos: David Degner, www.incendiaryimage.com [Photo 1 & 3]

MASSIVE SCAR ERA im Überblick:
MASSIVE SCAR ERA – Heavy 132-Interview (aus dem Jahr 2010)
MASSIVE SCAR ERA – Online Empire 43-Special (aus dem Jahr 2010)
MASSIVE SCAR ERA – Online Empire 47-Interview (aus dem Jahr 2011)
MASSIVE SCAR ERA – News vom 31.03.2011
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